Essay der Fragen

Illustration: ©AHAOK

Katja Brunner und Werner Rohner
NZZ Folio vom Dezember 2019 zum Thema "Heimat"

Was kannst du nicht mitnehmen von zu Hause? Eine literarische Befragung.

Wie alt muss Heimat sein, damit sie als solche erkannt wird? Gibt es eine Heimat, wo es keine ­Normalität gibt?

Und wird nicht alles, woraus man vertrieben wurde, irgendwann zum Paradies, auch wenn es die Hölle gewesen ist?

Hattest du je diesen Traum, in dem deine Sachen am ­Stacheldraht hängen blieben?

Sagen wir, ein Magazin macht ein Heft zum Thema Heimat, ist das nicht – egal, wie kontrovers der ­Begriff diskutiert und gezeigt wird – gleichzeitig eine ­Etablierung desselben? Und kann Heimat ­überhaupt ein Ort sein, oder ist sie nicht viel eher eine Sehnsucht?

Warst du schon einmal am Ende der Welt, hinter Magglingen? Hast du auch Rehe im Schnee gesehen, aber nicht gehört? Ist Meditieren jetzt ein Rückzug oder ein ­Besinnen auf oder aus der Welt?

Ist Sesshaftigkeit die Voraus­setzung, um den Heimatbegriff ­instrumentalisieren zu können? Staatlich geförderte Verschuldung fürs Eigenheim? Und wie wirken sich Negativzinsen auf unsere ­Vorstellung von Besitz aus? Was, wenn Liberale plötzlich nicht mehr in Staaten, sondern in Nationen denken sollten? Ist das bereits der Fall? Was bedeutet Privatisierung von Heimat? Ist Vergessen in der Geschichtsschreibung ­vorgesehen?

Wie viele Menschen wurden unter dem Banner von Heimatschutz getötet?

Weltweit?

Welche Heimaten sind noch nicht «verloren»? Cumulus-Karte? ­Grillieren? Gerüche des Sommers? Der öffentliche Nahverkehr?

Die über Fussballvereine? Die ­Zugehörigkeit über einen Bund der Gräser, Lycrashorts und Anpfiffe?

Fascio bedeutet Bund, nicht wahr? Oder Bündel?

Wenn Heimat eine Empfindung des Vertrauten in einem vorgeblich ­unbedrohten Kontext ist, warum gelten dann Handlungen, die ­jahrein und jahraus dieselben sind, nicht als solche: Hände waschen, Klospülung drücken, Nahrung zum Mund führen?

Fehlt dir zufällig auch das ­Kämpferische des Beginns ­deiner Liebesbeziehung?

Würdest du kurz vor deinem Tod auch noch Bücher über Raubgold lesen? Ist es ein Zeichen von Leben, sich mit den Schrecken der Zeit beschäftigen zu wollen? Nimmt der Schrecken mit der Wiederholung ab?

Schreckst du vor Heimat auch ­zurück, weil du sie nur ­instrumentalisiert kennst? Und hast du trotzdem oder erst recht Sehnsucht danach?

Wie ist die Sehnsucht danach ­beschaffen? Ist sie eine Art ­fehlgeleitete Sehnsucht nach einer Kindheit, selbst wenn es eine ­beeinträchtigte Kindheit war?

Ist Kindheit ein so guter Ort, um sich zurückzuziehen, weil Erinnerungen inzwischen zu vergangenen, ungenutzt verstrichenen Möglichkeiten geworden sind?

Wenn der durch die Nationalsozialisten ausgeübte Heimatschutz ein Faktor für das Auslösen der ­Schoah war, warum hast du dann nicht öfter den Traum mit dem ­Stacheldraht?

Wenn die Idee der Heimat ein ­Produkt der Romantik war, warum ist es dann so, dass Eichendorffs «Taugenichts» nur wegwill?

Welche neuen Heimaten stellen Globalisierungsprozesse zur Verfügung? Tablets? Smartphones? Das Logo von Easyjet? Partikeln von Staub, aufgeflirrt durch ­Reibung der Räder auf den ­Schienen?

In welcher Form möchtest du einst ewig leben?

Wer ist dir noch etwas schuldig?

Was konntest du nicht mitnehmen von zu Hause?

Wenn du täglich die Apokalypse kommen siehst, setzt du eher auf Dosenravioli oder Dosengulasch?

Wie sehr glaubst du, dass die Naturverherrlichung der Romantik zur Heimatschutzbewegung des frühen 20.Jahrhunderts, also zur nationalsozialistischen Konta­minierung des Begriffs «Heimat», führte?

Und jetzt: Transnationale ­Heimaten? Die sture Monotonie des McChicken? Die spröde Zu­verlässigkeit eines Matcha-Tees in Massachusetts, Tokyo und Zürich?

Leidest du an Domophobie, der Angst vor Häuslichkeit? Glaubst du, dass sie therapierbar sei?

Wenn Heimat synonym ist mit ­urmenschlichen und besonders schönen Anliegen wie dem Emp­finden von Vertrautheit, Bindung, warum tun wir so, als wäre Heimat eine erschöpfliche Ressource?

Würdest du Gras überall, wo Gras wächst, mit «struppig» ­beschreiben?

Hast du ein Kosewort für Heimat?

Gibt es eine Heimat ohne ­Klischees? Gibt es überhaupt so etwas wie permanente Heimat? Spielt es eine Rolle, wo ich ­aufwache – wo die Träume bleiben? Was ist Heimat jenseits von ­Patriotismus, der doch mit einem Ort verbunden ist? Ist es so, dass Amokläufe vor allem in bekannter Umgebung geschehen?

Fanst du auch für Schweizer Sportlerinnen und Sportler, ­obwohl dir bewusst ist, dass dich mit ihnen nichts verbindet als ein rotes Büchlein, das du nur an ­manchen Grenzen hervornimmst?

Welche Art der Privilegien und Sicherheiten garantiert dir ­zuweilen dieses rote Büchlein?

Ist Sportberichterstattung die Reinform einer Schulung in ­Nationalismus? Und warum wird Genetik in der Presse benutzt, um auf Unterschiede hinzuweisen?

Wäre Federer auch so nett, wenn er nicht so oft gewinnen würde?

Schmeckt ein Apfel im Weltall gleich wie auf der Erde?

Wie heisst die Materie, in welche der Erdkern gefasst ist?

Was ist das Gegenteil von Heimat (im Inland)?

Ist die zuverlässige Wiederkehr altbekannter Gefühle eine ­Heimat? Hass? Neutralität? (Ist Neutralität ein Gefühl?) ­Liebe zu vergangener Zeit?

Wann hast du die Träume mit ­Stacheldraht?

«Home is nowhere without you»? In welcher Phase einer ­romantischen Zweierkiste wird dieser Gedanke gedacht? Wird der erste Kuss zu oft erzählt? Gibt es Songs, die du nicht zu oft hörst, weil du fürchtest, sie ­könnten ihre Wirkung verlieren?

Bist du stolz auf das Arsenal nicht übersetzbarer Worte aus dem Deutschen ins modern day ­esperanto English: Blitzkrieg, ­Doppelganger und Heimat?

Möchtest du unter Fremden ­sterben?

Wie viele Menschen wurden unter dem Banner von Heimatschutz getötet?

Weltweit?

Mehr Kinder als Frauen oder mehr Frauen als Kinder?

Kannst du drei Aspekte von Heimat aufzählen, die nicht national­identitär ausgelegt werden ­könnten?

Ist Heimat abzugrenzen von der Sehnsucht nach Heimat?

Ist heimisch sein, Zahlen Strecken zuordnen zu können? Einwandfreie Buslinienkenntnisse?

Ab wann wird Bekanntes zu ­Heimatlichem?

27 Mal die gleiche Bewegung? Ab wann ist eine Handlung routiniert? Und wie viele Tage braucht es, bis die gleiche Abfolge von Akten ­Gewöhnung ist?

Ist eine Veränderung in den ­Umständen, die die Handlungen ermöglichen, eine Verunsicherung?

Und ist, wer Veränderung gleich beim ersten Mal gutheisst, einfach unzufrieden?

Ist das immergleiche erzitternde Quietschen der Türe beim ­Öffnen beruhigend?Ist Tiefen­entspannung dann erreicht, wenn der Schliessmuskel loslässt?

Wessen Heimat wärst du gern?

Wenn es ein Heimatmuseum gibt, ist die Heimat dann ausgestorben, schützenswert, künstlich oder was?

Und wie lautet eigentlich der Plural von Heimat?

Was konserviert ein Heimatmuseum?

Ist das nicht fast analog zum Ausstellen verdorbener Lebensmittel? Gibt es das Wort «heimatfremd» schon?

Was denkst du, wenn plötzlich ein Bettler in deinem Heimatort ­auftaucht? Grüsst du ihn? Gibst du Geld? Siehst du ihn als Symptom oder als Menschen? Erwartest du, dass diese Person dich auch grüsst, wenn du das nächste Mal nichts gibst? Gibst du mehr, wenn die Person sich freundlich bedankt hat? In wie vielen Fremdsprachen kannst du das Wort «danke» ­sagen? Weisst du auch, wie man in diesen Sprachen die Rechnung ­bestellt?

Wie viele Menschen wurden jetzt unter dem Banner von ­Heimatschutz – in, sagen wir, Europa –  getötet?

Was denkst du, wenn plötzlich fünf Bettler in deinem Heimatort ­betteln? Grüsst du noch? Gibst du mehr Geld? Fürchtest du dich? Hilft es gegen die Scham? An den Tagen, an denen du nichts gibst? Hast du schon einmal nach ­Rückgeld gefragt?

Was passiert mit der Scham, wenn du lange nichts gibst? Wut? ­Gewöhnung? Wie lange müssen die Bettler betteln, bis sie nicht mehr Fremde sind? 100 Tage? Wenn sie auch bei Regen und Schnee ­dastehen? Wenn man beginnt, ­Geschichten über sie zu erzählen?

Was würde dir fehlen, wenn niemand mehr das Strassenmagazin «Surprise» verkauft?

Warum kannst du sie nicht ­los ­werden, die gärende ­Beunruhigung?

Wen hast du verraten?

Wo legen sich Tiere schlafen, wenn der Boden nass ist?

Stimmst du zu, wenn man eine oder einen tötet, tötet man auch ihre oder seine Kinder und ­Kindeskinder?